Die Schäfersage[1] – eine historische Vermutung
Am 29. März 2020 feierte der Magdeburger Dom das 500. Jubiläum seiner Vollendung. Als Familie sind wir mit dem Dom nicht nur über den Stiftungsgründer George Koppehele, der als Domherr im 16. Jh. dort wirkte und dessen Epitaph wir bis heute im Dom finden, verbunden. Der Schäfersage nach geht die Verbindung der Koppehele bis ins Jahr 1210 zurück, als der Bau des Magdeburger Domes ins Stocken gerät. 1209 lässt Erzbischof Albrecht von Käfernburg den Grundstein zum heutigen Dom legen und erhebt, neben dem Hl. Mauritius, auch die Hl. Katharina von Alexandrien zur Mitpatronin. 1207 war, am Karfreitag, auf dem Breiten Weg ein Großfeuer ausgebrochen, das auch auf den romanischen Vorgängerbau – eine Gründung Ottos des Großen – übergriff. Die Magdeburger Schöffenchronik berichtet über den Stadtbrand, der sich unmittelbar nach Albrechts Rückkehr aus Rom ereignete, wo er vom Papst das Pallium erhalten hatte: »Am Karfreitag gegen Mittag, als man das Kreuz verehrte, erhob sich auf dem Breiten Weg ein Feuer, und die Flammen flogen auf den Dom und verbrannten das Münster, die Türme, den Remter und die Klausur und auch den Marstall größtenteils und alle Glocken fielen herunter bis auf eine kleine.« Der Grundstein, den Erzbischof Albrecht legen lässt, ist auch der Grundstein zum ersten gotischen Kathedralbau in Deutschland.
Albrecht, Sohn des Grafen Günther II. von Schwarzburg-Käfernburg und der Gertrud von Wettin-Meißen, Tochter des Markgrafen Konrad, stammt aus einem alten thüringer Grafengeschlecht. Er ist Schüler der reichspolitisch bedeutenden Hildesheimer Domschule und studiert in Bologna und Paris.
Nach verschiedenen Stationen u.a. in Mainz wird Albrecht, noch im Thronstreit zwischen Philipp von Schwaben und Otto IV. von Braunschweig, vom ersteren als Nachfolger des 1205 verstorbenen Erzbischofs Ludolf eingesetzt und führt, bis zur Ermordung Philipps im Jahr 1208, den prostaufischen Kurs seiner Vorgänger fort.
Danach fällt die Alleinherrschaft in Deutschland an Otto IV. Der Welfe bemüht sich erfolgreich, den Erzbischof von Magdeburg für sich zu gewinnen, was in Verhandlungen mündet, die mit der Anerkennung Ottos als alleiniges Reichsoberhaupt durch Erzbischof Albrecht. enden. Als Gegenleistung sagt der Welfe im Sommer 1208 u. a. die Förderung des Reichs für den Neubau des Magdeburger Doms zu. Albrecht II., der in Paris die Gotik kennengelernt hatte, nutzte die die Zerstörung des Vorgängerbaus, um gegen starken Widerstand aus dem Domkapitel den ersten gotischen Kathedralbau auf deutschem Boden zu initiieren. Im April 1209 wurde der Grundstein gelegt. Die Errichtung des mächtigen Bauwerks zog sich mehrere Jahrhunderte, bis 1530 hin. Papst Innozenz III. rief 1215 zur Unterstützung des Neubaus auf.
Die Jahre nach 1208 bringen für das Erzbistum Magdeburg noch nicht den ersehnten Frieden. Zwar wird Otto IV. 1209 in Rom zum Kaiser gekrönt, aber schon ein Jahr danach gerät er in Konflikt mit dem Papst und in der Folge auch mit Erzbischof Albrecht von Magdeburg. Die Kämpfe nahmen ein solches Ausmaß an, dass die Lauterberger Chronik folgenden damals kursierenden Spruch wiedergibt: »Ein Kaiser Otto und ein Erzbischof Adalbert haben das Erzbistum Magdeburg gegründet, ein Kaiser Otto und ein Erzbischof Adalbert haben es wieder zerstört« (zitiert nach Wolter, S. 29). Tatsächlich herrschte zwischen dem Kaiser und dem Erzbischof bis 1218 fast permanent Krieg. Die versprochene finanzielle Unterstützung Ottos IV. für den Bau des Doms bleibt aus. Erst mit dem Tod Ottos IV. am 19. Mai 1218 endeten diese Auseinandersetzungen. Einer anderen Überlieferung, im Zusammenhang mit der Schäfersage, ziehen auch die Magdeburger Bürger und die Stiftsvasallen ihre versprochenen Spenden zurück. Ob sich hier die Ottonen-Treue (auch in Köln spalten sich Erzbischof und Bürger in ihrer Unterstützung der Staufer und der Ottonen) bahn bricht oder bzw. und der Widerstand gegen einen neuen Baustil, der auf deutschem Boden noch kein Vorbild hat, lässt sich nicht mehr klären. Deutlich wird aber, dass der Bau des Magdeburger Doms nicht nur der eines Sakralbaus ist, sondern eine politische Dimension mitschwingt, die nahezu europäische Dimensionen hat. Auf der persönlichen Ebene ist der Dom wiederum das Lebenswerk und Vermächtnis Albrechts und dieses Projekt gerät in Gefahr. Albrecht braucht also eine Strategie, mit der er die moralische Hoheit, den Vorrang der Kirche in dieser Frage wieder herstellt. Hier greift die Schäfersage und wird evtl. zur „Medienkampagne“ des Mittelalters. Oder – wie es in einer der Überlieferungen niedergeschrieben ist:
„Aus jener misslichen Lage ward Albrecht nicht durch ein Wunder, sondern durch die Spende eines Schäfers[2] befreit.“
Kaiser, Stiftsvasallen und Bürger brechen ihre Versprechen. Ein Schäfer aus dem Fläming rettet den Bau der Kathedrale zur Ehre Gottes. Damit wird aus der romantischen Schäfersage ein Eklat innerhalb einer nach strengen Regeln ständisch organisierten Gesellschaft. Ein Eklat der sein biblisches Motiv im Gleichnis der „Einladung zum Hochzeitsmahl“ in Matthäus 22 findet.
Schäfer gelten im Mittelalter als unehrlich, nicht im betrügerischen Sinne, sie sind jedoch ohne ständisches Ansehen (zu den unehrlichen Berufen gehörten Müller, Scherenschleifer, Bader, Leinweber, Scharfrichter etc.). Ein Aufstieg aus dieser Schicht ist so gut wie unmöglich, Armut ist ein Kernelement ihres Lebenslaufs, Heiraten sind zumeist nur endogam möglich und der Zugang zu den Zunftberufen ist ihnen und ihren Nachkommen verwehrt. Ein weiteres spannendes Deital, die Akteure, die zur Rettung des Dombaus beitragen, gehören zur Kirche. Der Schäfer, der dem Kloster dient, der Abt des Klosters Berge und der Erzbischof, der den Bau der Kathadrale fortsetzen kann. Der Kaiser, die untreuen Bürger und Stiftsvasallen sind nun ausgeschlossen.
„Jener Hirte, er soll Coppehle geheißen und aus Gräfendorf bei Jüterborg gestammt haben, der die Schafe des Klosters Berge[3] auf dem Anger vor Magdeburg hütete, hatte mit seinem Knecht auf einem großen Findling Platz genommen, um das Mittagsmahl einzunehmen. Obwohl es beider Gewohnheit war, an diesem Stein zu rasten, hatten sie nie zuvor etwas Besonderes bemerkt. Während sie nun ihr Brot kauten, huschte eine Maus vorüber und suchte justament unter dem Stein Schutz, auf dem sie saßen. Sofort begannen die Hütehunde zu kratzen und zu scharren. Aber statt der Maus kamen Münzen zum Vorschein. Der Schäfer hob sie auf und rieb sie so lange an seinem Umhang, bis sie im Sonnenlicht funkelten.
Verwundert sahen die Männer auf den Fund, denn die Münzen bestanden aus purem Gold. Augenblicklich fragten sie sich, ob unter dem Findling womöglich ein Schatz verborgen sei. Ohne lange zu grübeln, wälzten sie den schweren Brocken beiseite. Genau dort, wo die Hunde gescharrt hatten, begann der Schäfer zu graben. Alsbald stieß er auf (eine Braupfanne), die bis zum Rand mit (Gold)Münzen angefüllt war.
Die unglaubliche Nachricht verbreitete sich im Eiltempo und erreichte auch den Abt des (Benediktiner-)Klosters (Berge). Er kam zum Schäfer und suchte ihn zu bewegen, den Schatz oder doch zumindest einen Teil dessen dem Erzbischof (Albert) zum Bau des Domes zu übergeben. Der fromme Schäfer, ein bescheidener Mann und guter Christ, der alles hatte, was er zum Leben brauchte, folgte der Mahnung des Abtes und legte den ganzen Schatz zum Dombau in die Hände des Erzbischofs. Gern nahm dieser das Geld an und setzte mit neuem Eifer das gute Werk fort.“
Der zweiten, der Jüterborger, Version folgend, soll der Gräfendorfer Schäfer Koppehele auf den Börneckebergen bei Jüterbog eine große Braupfanne voller Goldstücke gefunden haben, die mit 8 vierspännigen Wagen nach Magdeburg transportiert wurden. Auch eine Stiftung für die Familie sei damit verbunden gewesen, deren Zinsen in jedem Jahr unter die Nachkommen verteilt wurden. Dass die Geschichte an zwei Orten mit vergleichbarer Handlung erzählt wird, lässt zumindest einen wahren Kerngehalt vermuten. Aber auch hier lohnt sich der kritische Blick. Zumindest bei der angegebenen Größe des Goldschatzes dürften Zweifel berechtig sein. Schaut man sich Darstellungen historischer Braupfannen an, ist die Verteilung auf acht Wagen kaum angemessen. An dieser Stelle können wir getrost davon ausgehen, dass die Menge der Goldstücke im Laufe der Zeit und der Erzählungen angewachsen sein mag.
„Der Schäfer aber gehörte von nun an zum Haushalt des Erzbischofs. Zur Erinnerung an die Freigiebigkeit Coppehles, ließ der Erzbischof das steinerne Bild[4] des Schäfers, wie auch das seines Knechtes mit den Hunden über der sogenannten Paradiespforte, dem nördlichen Eingange des Domes, anbringen. An einem Steine[5] aber, der am nördlichen Turme eingemeißelt wurde, ist zu erkennen, wie weit der Bau mit dem Gelde des Schäfers gefördert werden konnte.“
Hier setzt sich der Eklat oder die Lehre der Geschichte fort. Der Erzbischof nimmt den standeslosen Schäfer in seinen Haushalt auf. In unterschiedlichen Versionen der Sage bekommt er darüber hinaus entweder die Funktion der Dombauaufsicht oder ein höheres geistliches Amt übertragen. Die Aufsicht über den Bau des Doms unterliegt dem Dombaumeister. Das System der Dombauhütten ist gut organisiert und die Mitgliedschaft bedarf einer guten Ausbildung. Somit ist die Rolle der Bauaufsicht, sofern sie kein Ehrenamt ist, in der Verantwortung eines Schäfers eher unwahrscheinlich. Das gilt ebenso für das höhere geistliche Amt. Im Mittelalter braucht es dafür ein entsprechendes Studium, das meist schon in den frühen Lebensjahren beginnt. Da unser Schäfer Coppehl, laut Erzählung hatte er einen oder mehrere Knechte, die ihn in seiner Arbeit unterstützten, vermutlich der Schäfermeister des Klosters war, mag er nicht mehr ganz jung gewesen sein. Somit käme auch hier nur ein Ehrenamt in Frage. Das Ehrenamt allerdings erscheint in Logik der vermuteten Kampagne nicht unmöglich, weil es Erzbischof Albrecht ja darum geht, vielleicht dem Kaiser, sicherlich aber den Magdeburger Bürgern und den Stiftsvasallen eine Lehre zu erteilen. Hier mag auch die Erklärung für das Schäferrelief liegen. Die Aufnahme der Spender in die Bilderwelt des Domes wäre kein unüblicher Ansatz gewesen, eine Ehre, die nun natürlich entfällt. Nun bekommt der Schäfer, sein Knecht und die Hütehunde direkt über der Paradiespforte ihren gut sichtbaren Platz. Berücksichtigt man dazu die Symbolorientierung des Mittelalters, mag der räumliche Bezug zur Darstellung der klugen und törichten Jungfrauen ebenfalls nicht zufällig gewählt sein.
Ob die ursprüngliche Sage tatsächlich auf den Schäfer Coppehl abzielte oder ob sie zum Narrativ der Familie bzw. vielleicht auch George Koppeheles selbst gehörte, um inmitten eines alteingesessenen und adeligen Domkapitels, eine historische Legitimation aufzuweisen, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Auch die Schäfergruppe über der Paradiespforte wurde im 19. Jahrhundert erneuert und in Kenntnis der Sage angepasst.[6] Für einen wahren Kern der der Geschichte spricht aber ein weiterer historischer Aspekt, der in das kirchenpolitische Gesamtbild passen würde.
Dass die Verortung des Schäfers Coppehl konsequent in Gräfendorf bei Jüterborg bleibt, verstärkt die Logik des oben angedachten Lehrstücks des Erzbischofs. Coppehl kann damit den flämischen Siedlern zugeordnet werden, die seit Beginn des 12. Jahrhunderts, die später deswegen Fläming genannte Region besiedelten. Albrechts Vorvorgänger Adalgod von Osterburg (Erzbischof von 1107 bis 1119) hatte zu Beginn seiner Amtszeit 1107 festgehalten: „Die Heiden hier sind übel, ihr Land aber höchst ergiebig an Fleisch, an Honig, an Mehl…an Vögeln. Und wenn es sorgfältig bebaut wird, wird ein solcher Überfluss an allem Wachstum aus der Erde sein, dass kein Land mit ihm verglichen werden kann. Das sagen die, die es kennen. Deswegen ihr Sachsen, Franken, Lothringer, ihr ruhmvollen Flandrer, Bezwinger der Welt, hier könnt ihr Eure Seelen erretten und – wenn ihr wollt – das beste Land zum Siedeln bekommen.“ Somit entsteht ein Bezug zwischen dem Herkunftsort des Schäfers und dem Erzbistum. Die Besiedlung des südöstlichen Teils des Flämings wurde von den Magdeburger Erzbischöfen vorangetrieben, die des westlichen Teils durch die Askanier. Es könnte Teil der Strategie des Erzbischofs gewesen sein, den untreu gewordenen Bürgern Magdeburgs und den Stiftsvasallen einen Mann vorzuführen, der aus den Reihen der Siedler kam, die den Fläming den Heiden abgetrotzt hatten. Damit würde das Motiv des glaubensstarken, einfachen Mannes (aus der Fremde), der auf eigenen Reichtum zugunsten der Ehre Gottes verzichtet, verstärkt und den wohlhabenden, etablierten Magdeburgern entgegengestellt. Unterstützt wird dies durch die Analogie zum Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Matthäus 25/Lukas 19).
[1] Der hier veröffentlichte Text hat zwei Grundlagen. Zum einen die „Magdeburger Sagen“ von Wilhelm Schlak, nacherzählt vom Literaturwissenschaftler Prof. Otto Fuhlenrott, zum anderen die „Magdeburger Domsagen“ des Publizisten Hans-Joachim Krenzke, erschienen im Verlag Atelier im Bauernhaus, 2001.
[2] Welchen gesellschaftlichen Status hatten Schäfer in jener Zeit (er hatte einen Knacht)
[3] Orden? Wer war Abt?
[4] Gibt es ein gute Bild aus dem Domarchiv o.ä.?
[5] Gibt es den Stein noch? Gibt es ein Photo?
[6] Gibt es noch Aufzeichnungen zur ersten Version?